Viele Jahre vor dem Weltkrieg, als zwischen Oberschlesien und Österreich noch die alte Landesgrenze lief, ereignete sich auf dem deutsch-galizischen Grenzbahnhof M. eine köstliche Geschichte, die für die beteiligten Bediensteten zwar recht ernste Folgen haben konnte, schließlich aber doch einen verhältnismäßig günstigen Ausweg nahm.
Über den Vorfall schwebte lange Zeit tiefstes Dunkel. Sein geheimnisvoller Verlauf kam erst an das Tageslicht, als längst Gras darüber gewachsen war und keine Gefahr mehr bestand, dass den Übeltätern noch etwas am Zeuge geflickt werden konnte. Die leidtragenden Parteien selbst haben nie etwas über die näheren Zusammenhänge erfahren. Der Sachverhalt war folgender:
Ein Großgrundbesitzer in der Nähe von Lemberg (Galizien) wollte seiner Gattin eine besondere Geburtstagsfreude bereiten und bestellte bei der bekannten Hundezüchterei C. und M. in Sachsen einen echten schwarzroten Dackel. Die Bestellung wurde prompt ausgeführt. Das kleine Geburtstagsgeschenk kam in einem Käfig wohlverwahrt zur Bahnaufgabe und gelangte auf dem Wege nach Lemberg an die deutsch-galizische Grenzstation M. Hier hatte die Sendung längeren Aufenthalt, um zollamtlich abgefertigt und an die Anschlussbahn übergeben zu werden.
In M. walteten ihres Amtes zwei biedere oberschlesische Gepäckträger: nennen wir sie der Kürze wegen mit ihren Vornamen August und Wilhelm, unter denen sie auch allgemein bekannt waren. Als brave und dienstbereite Leute vom guten alten Schlage genossen die beiden Vertreter der Gepäckträgerzunft nicht nur ein gewisses Ansehen bei dem Reisepublikum, sondern man rühmte ihnen auch nach, dass sie allen lebenden Tiersendungen, die die Grenze nach langer Fahrt passieren mussten, ein warmes Mitgefühl entgegenbrachten und für deren pflegliche Behandlung sorgten.
So geschah es auch, dass der kleine Dackel, als er in ziemlich erschöpftem Zustande in M. anlangte, das Mitleid der beiden Gepäckträger erweckte. Sie kamen daher überein, den Hund auf kurze Zeit aus dem Käfig zu lassen, um ihm ein wenig Bewegung zu verschaffen, und glaubten, dass es dem Teckelchen auch dienlich wäre, wenn sie seine Lebensgeister durch Futter und Wasser etwas auffrischten. Der Kleine missbrauchte aber in undankbarster Weise die Gutmütigkeit von August und Wilhelm und benutzte die wiedererlangte goldene Freiheit, um mit kühnem Satze durch die offene Tür des Gepäckraumes die Straße zu gewinnen und im Menschengewimmel zu verschwinden.
Trotz sofortiger Verfolgung und sonstiger eifrigster Bemühungen gelang es nicht, des Hundes habhaft zu werden. Er hatte sich spurlos verkrümelt. Nun war guter Rat teuer. Es wurde hin und her überlegt. Sollte man den peinlichen Vorfall dem gestrengen Herrn Vorsteher melden? Dann gab’s nicht nur einen bösen Staucher, sondern es trat an die beiden Übeltäter die noch viel bösere Schadensersatzfrage heran, auf die ihre schmalen Geldbeutel nicht zugeschnitten waren. Dieser Weg war also nicht gangbar. In ihrer größten Not kam dem pfiffigen Wilhelm ein erleuchtender Gedanke:
„Weißt du August, da fällt mir ein, mein Hausnachbar, der Fletscher X., hat einen kleinen schwarzen Hund namens Fix, den er gern los sein möchte. Er sieht dem Dackel ziemlich ähnlich und soll auch von einem solchen abstammen. Wie wär’s, wenn ich ihn holen und in den Käfig stecken würde? Wir schicken ihn nach Lemberg weiter, vielleicht merkt der Empfänger nichts von dem Tausch.”
Gesagt, getan. Der „Fix” wanderte also in den Käfig und trat wohlgemut die Reise nach Lemberg an. Dort hatte man entgegen der Ansicht der Gepäckträger aber doch so viel Hundeverstand, um einen richtigen Dachshund von einem Fixköter zu unterscheiden, und war nicht wenig erstaunt über den sonderbaren Ankömmling. Die Sache wurde also kritisch, und es entwickelte sich zwischen Lemberg und Sachsen folgender Depeschenwechsel, der in beiden Richtungen durch M. lief und daher dort bekannt wurde:
„Hier für erwarteten Dackel ein Hund undefinierbarer Rasse angekommen, bitte Aufklärung.”
Antwort zurück nach Lemberg: „Ausgeschlossen, Dackel, wie bestellt, richtig abgesandt.”
Zweites Telegramm nach Sachsen: „Durch Sachverständigen Fixköter festgestellt, Annahme wird verweigert, bitte über Hund verfügen.”
Die Versandfirma war empört, vermutete natürlich Gaunerei und wollte schon ein geharnischtes Mißtrauensvotum vom Stapel lassen, als schließlich doch die bessere Einsicht siegte und zurückgedrahtet wurde: „Bitte umgehend Lichtbild von dem dort eingetroffenen Hunde hierhersenden.”
Das Bild kam an, und es unterlag keinem Zweifel, der sich präsentierende Hund war alles andere als der ab- gesandte Dackel. Unglaubliche Sache! Es blieb unter diesen Umständen natürlich nichts anderes übrig, als den Hund zurückzubeordern. Unser Pseudodachs trat also wieder die Rückreise nach Deutschland an.
In M., wo er abermals über die Grenze musste, wurde seine Ankunft mit großer Freude begrüßt. Das unverhoffte Wiedersehen hatte insofern eine besondere Berechtigung, als es Wilhelm inzwischen gelungen war, den entflohenen Dackel wieder einzufangen und vorläufig in Pflege zu nehmen. Es bot sich also für die beiden Gepäckträger die günstige Gelegenheit, den Tausch beider Hunde unauffällig vorzunehmen und damit die Missetat, durch die ihr Gewissen schwer belastet war, wieder gutzumachen.
Der Fix, dem der Abstecher nach Lemberg anscheinend recht gut bekommen war, wurde also schwanzwedelnd in Freiheit gesetzt, und unser Ausreißer wanderte tiefbetrübt in den Käfig zurück.
Es kann sich jeder das Erstaunen vorstellen, als der richtige Dackel in seiner Heimat ankam und freudestrahlend aus dem Käfig sprang. Niemand ahnte den Zusammenhang. Die Wogen der Empörung schlugen hoch, und es war begreiflich, dass man dem Herrn Großgrundbesitzer in Lemberg die unlautersten Motive unterschob und ihn beschuldigte, gegen Treu und Glauben gröblichst verstoßen zu haben. Schließlich siegte aber doch wieder die bessere Einsicht und man beschloss mit ihm in Verhandlungen zu treten und die Sache auf gütlichem Wege zu regeln. Der nun in friedlichem Geiste geführte Schriftwechsel, in dem wahrscheinlich von Missverständnissen, Irrtum usw. die Rede war, wurde zwar auf der Grenzstation nicht bekannt, er zeitigte jedenfalls ein günstiges Ergebnis, denn eines schönen Tages wurde in M. ein Käfig mit einem Hunde entladen, in dem die Gepäckträger sofort den kleinen Dackel erkannten, der sich wieder auf dem Wege nach Lemberg befand. Nun fiel beiden der bekannte Mühlstein vom Herzen, und Wilhelm sagte zu seinem Kollegen:
„Weißt du, August, nun lassen wir das Hundei aber nicht mehr heraus, denn die Angst möchte ich nicht noch einmal erleben, die uns der Bösewicht das erstemal eingejagt hat.” Der glückliche Ausgang wurde dann, wie man sich erzählt, kräftig begossen. Heute deckt beide Gepäckträger längst der grüne Rasen.