Hannoverscher Schweißhund durch die Landkreise Teil I
Mehrere Telefonate am Abend gaben Gewissheit, dass der in Bremen wohnende Jagdpächter von Brunshausen sich bereit erklärte, trotz anderweitiger Verpflichtungen in der Früh zu erscheinen. Auf sein Bitten sollten aber nur wenige von ihm ausgesuchte Schützen dabei- sein, da er selbst keinen allzu großen Sinn mehr in der Fortsetzung der Nachsuche sah. So vereinbarte man ein Treffen um 10 Uhr an seiner Jagdhütte, die unweit des Waldstückes lag, in das der Keiler sich zuletzt zurückgezogen hatte.
Während ich versuchte zu schlafen, gingen mir immer wieder die Ereignisse des Vortages durch den Sinn. Sechs Schuss auf einen Keiler, und immer noch hielt Diana die Hand über ihn.
Lange vor der verabredeten Zeit stand ich am Treffpunkt und wartete auf das Erscheinen des Jagdherrn und auf die wichtigste Person: Günther mit Mungo, seinem Schweißhund. Was hatte dieser in den vergangenen Nachsuche-Stunden doch schon geleistet!
Nach und nach trafen sie dann ein, die anderen Schützen, unter ihnen auch mein Jagdherr Bernhard sowie Freund Jens und der stellvertretende Samtgemeinde- Direktor.
Nach kurzer Lagebesprechung anhand einer Karte beschlossen wir, das Gebiet an drei Seiten abzustellen, denn an der vierten Front führte die Kreisstraße vorbei, gleich dahinter lag das Dorf, und anschließend kamen freie Felder. Hier würde der Keiler, sollte er noch stecken, wohl kaum ausweichen. In der Nacht hatte es getaut, gehagelt, wieder etwas geschneit und gegen Morgen gefroren.
Möglichst lautlos stellten wir uns an, und nach der verabredeten Viertelstunde nahm Günther mit Mungo die alte Fährte wieder auf – schon war er im Unterholz verschwunden. Bereits nach wenigen Minuten rief er mit sich überschlagender Stimme: „Achtung! Schwein kommt!”
Wie erstarrt lauschte ich auf jedes Geräusch; schon brach es bei mir in der Dickung. Die Büchse war entsichert, und das aufkommende Jagdfieber kaum unterdrückend, stand ich in Voranschlag, da polterte es aus der Dickung. Ich riss die Waffe hoch, suchte im Fadenkreuz und sah … Damwild! Zwei Alttiere und ein Schmaltier waren es.
Da rief Günther erneut: „Achtung! Schwein kommt!” wieder harrte ich angespannt lauschend der Dinge, aber außer einem müde hoppelnden Hasen war kein Wild zu sehen. Auch bei den Nachbarn fiel kein Schuss. Nach einer weiteren halben Stunde rief unser Hundeführer zum Sammeln.
Was war geschehen? Schon kurz nach dem Angehen «rar Günther auf eine im Kessel sitzende Sau gestoßen, die sofort flüchtig abging. Unsicher, ob es „unser Schwein war, tupfte er den Kessel mit einem weißen Taschentuch ab, um die Gewissheit zu haben, er fand aber keinen Schweiß. So nahm er an, es wäre eine gesunde Sau gewesen und schnallte daher den Hund nicht. Nach wohl hundert Metern machte er unter einer Windwurf -Fichte erneut eine Sau hoch, die sich im Unterholz »erdrückte, ohne dass er ansprechen konnte, geschweige denn zu Schuss kam. Beim Austupfen des Bettes stellte er Schweiß fest, und da wusste er, es war „unser” Keiler.
Dennoch war dieser keinem der vorstehenden Schützen gekommen, und weiteres Nachfahrten zeigte, dass der Basse uns wieder ein Schnippchen geschlagen hatte: Er war tatsächlich an der nicht abgestellten Seite am Dorfrand über freie Felder dem nächsten Revier entgegengeflüchtet.
Nach kurzer Beratung beschlossen wir, weiter zu folgen. Die Mitjäger sollten sich zu unserer Verfügung halten. Heute hatte Günther wohlweislich Funkgeräte bei sich, umso ein schnelles Verständigen zu ermöglichen. Weiter ging es, bis an den anderen Ortsrand von Brunshausen.
Ohne Pause war der Keiler, kaum Deckung annehmend, gezogen. Wir hatten inzwischen den Landkreis Rotenburg verlassen, befanden uns nun im Landkreis Cuxhaven und standen an der Grenze zum Landkreis Osterholz.
Die Wundfährte führte in einen größeren Dickungs- und Waldkomplex der Eigenjagd Steden. Wir hatten zwischenzeitlich gewiss 15 Kilometer zurückgelegt. Vorsichtig umschlugen wir die Dickungen, aber es stand keine Fährte heraus, also musste das Schwein stecken. Leise stellten wir Bernhard im angrenzenden, übersichtlichen Altholz ab, um zu vermeiden, dass sich die Sau unbemerkt vor uns verdrücken könnte, eilten dann zum Ortsrand und verständigten die anderen Jäger. Nach unserem Ermessen konnte nun nichts mehr schiefgehen. Inzwischen war es 13.30 Uhr, und so wurde telefoniert, um möglichst viele Schützen zu diesem nicht alltäglichen Drücken zusammenzuholen. Um 14.30 Uhr sollte Treffen sein.
Endlich war es soweit. Nach und nach traf ein weiteres Dutzend Schützen ein, alle waren bester Stimmung. Die Dickung war verhältnismäßig klein, genügend Schussfeld vorhanden, und ausreichend Schützen standen zur Verfügung – es musste einfach klappen, der Keiler war uns sicher.
Leise wurde abgestellt, und nach wenigen Minuten zogen Günther und ich mutig, jedoch recht angespannt mit dem stramm im Riemen liegenden Mungo auf der frischen Fährte los. In dem dichten Bewuchs war nur wenige Meter Sicht.
Der Keiler war immer wieder bis an den Dickungsrand gezogen und hatte sich offenbar Wind von den anstehenden Schützen geholt. Ich hatte das Gefühl, er ziehe – immer vor uns ausweichend – am Rande entlang. Eiskalt durchfuhr es mich, als wir merkten, dass der Basse uns mehrmals im Kreis herumführte und in unserer eigenen Fährte folgte. Ständig lauschend, teilweise auf den Knien durch den Unterwuchs spähend, zogen wir so vor oder auch hinter ihm her. Dies ging wohl eine halbe Stunde. Dann glaubten wir ihn vor uns auf einer etwas lichteren Dickungshälfte zu erblicken.
Günther blieb stehen, der Hund sog aufgeregt die warme Wittrung ein, und ich versuchte durch seitliches Vorpürschen dem Keiler den Rückweg abzuschneiden. Fast war ich am Bestandesrand, da durchbrach er polternd, ohne dass ich ihn sah, die Deckung vor mir und verschwand wieder im rückwärtigen Teil der Dickung.
Jetzt hieß es, die gleiche Geschichte noch einmal von vorn zu beginnen. Immer härter zog Mungo am Riemen, und wir konnten ihm nur mühsam nachkommen.
Plötzlich fiel an der Feldkante ein Schuss. Hastig strebten wir dem Dickungsrand zu. Dann fielen noch einmal zwei Schüsse vor uns und anschließend im Stakkato weitere. Außer Atem kamen wir beim ersten Schützen an. An seinem Gesicht sahen wir unschwer, dass wieder etwas schiefgegangen sein musste – so war’s dann auch. Nach dem Eintreffen der restlichen Schützen klärte sich schnell die abgelaufene Situation. Der erste Schuss kam von Jens, der nervös an seiner Waffe gespielt hatte. Die Sau war dann bei Dieter zügig gekommen. Um die im Hintergrund stehenden Schützen nicht zu gefährden, wartete er, bis sie im Freien war, und dann ließ Diana auch ihn im Stich: Beide Kugeln gingen auf die inzwischen hochflüchtig über den grob-gepflügten Acker flüchtende Sau vorbei, und auch der günstig stehende Gastwirt Martin war der ungewohnten Schießart auf den laufenden Keiler nicht gewachsen. Die folgenden zwei Schüsse gingen fehl. So konnte ein gutes Dutzend staunender Jägeraugen den Keiler über wohl 1,5 Kilometer durch Felder, Wiesen und schneebedeckte Blößen davonflüchten sehen.
Über 15 Kilometer Nachsuche, 13 Fehlschüsse – das war zuviel für uns!
Inzwischen neigte sich der zweite Tag dem Ende zu. Aber Günther und ich wollten einfach nicht aufgeben. Nachdem wir ja in uns unbekannten Revieren waren, ließen wir unsere Waffen an der Grenze zurück und schickten die anderen Jäger nach Hause. Lediglich Jens sollte versuchen, uns später wieder aufzusammeln.
So ging es außer Atem, aber mit festem Willen, nicht aufzugeben, weiter. Ohne Pause war der Basse durch feuchte Senken, Bruchwälder, an Gattern vorbei in den Landkreis Osterholz gezogen. Dies war der dritte Landkreis, in den uns die Suche führte – nur entstanden durch meinen jagdlichen Übereifer am Weihnachtsabend.
Vereinzelt kreuzten wir Schwarzwildfährten, oder wir arbeiteten uns auf Sauwechseln weiter, aber meistens mied der Keiler diese. Fünf weitere Kilometer waren wir inzwischen wohl gezogen, und die Fährte führte durch unbekannte Waldungen. Selbst die Orte in der Ferne kamen uns nicht bekannt vor. Jede Dickung umrundeten wir in der Hoffnung, die Sau möge sich hier eingeschoben haben, aber immer wieder stand die zwischenzeitlich wohlbekannte Fährte auf der anderen Seite heraus. Zwar war kein Schweiß zu finden, aber es war keine Schwierigkeit, die markanten, starken Trittsiegel wiederzuerkennen.
Nur der Wille, dem durchtrainierten, sportlichen Schweißhundführer keine Blößen zu zeigen, ließ mich noch vorwärts gehen.
Kurz vor Dunkelwerden folgten wir der Fährte in eine von vielen Schwarzwildwechseln duchzogene Dickung – und hier stand die Fährte nicht wieder heraus. Eine zweite Umrundung bestätigte es.
Müde machten wir uns auf den Heimweg; da wir ortsunkundig waren, wollten wir den erstbesten Autofahrer anhalten und ihn um Auskunft bitten. Wir hatten Glück. Jens mit seinem geländegängigen Wagen war der erste, dem wir begegneten. Völlig zerschlagen kamen wir
schließlich bei unseren Autos an und berieten resigniert, ob wir aufgeben sollten. Keiner kannte das Revier und die Pächter, und so gingen wir ohne konkrete Vorstellungen schließlich auseinander.
Erschöpft daheim angekommen, ging es wieder ans Telefonieren. Helfen konnte mir schließlich der stellvertretende Samtgemeinde-Direktor, der herausfand, dass der Keiler laut unserer Beschreibung in der Eigenjagd Norwede im Landkreis Osterholz steckte. Ein grobes Nachvollziehen unserer bisherigen Tour auf der Landkarte bestätigte, dass wir fast 23 Kilometer Nachsuche hinter uns hatten.
Rücksprache mit dem Schweißhundführer ergab, dass wir uns am nächsten Morgen um 10 Uhr zum allerletzten Versuch noch einmal treffen sollten.
Pünktlich trafen wir am anderen Morgen mit einer kleinen Korona zusammen. Nach dem Abstellen zogen Günther und ich, Mungo folgend, an der am Vorabend verbrochenen Stelle in den Bestand. Schon bald zeigte sich, dass die feuchte Dickung ideale Einstände für Schwarzwild bot. Zahlreiche Kessel und Fährten sowie viel Losung sprachen dafür.
Nach wohl 50 Metern polterte es vor uns. Mich hastig auf den Boden werfend, konnte ich im Unterwuchs eine Bache mit fünf Frischlingen davonpoltern sehen.
Weiter ging es, und immer schwieriger wurde es, die Fährte, die über Nacht durch Tauwetter fast aufgelöst war, zu finden. Schließlich teilten wir uns und suchten getrennt weiter, doch keine frische grobe Fährte war mehr zu entdecken, dafür standen jede Menge frische Frischlingsfährten in dem feuchten Waldboden.
Nachdem wir den großen Dickungskomplex zweimal durchsucht hatten, ohne von „unserem” Keiler auch nur ein frisches Trittsiegel gefunden zu haben und außerhalb auch kein Schuss gefallen war, brachen wir die Nachsuche ab.
Beim Zusammentreffen mit den anderen Jägern wussten diese zu berichten, dass mehrere Bachen mit Frischlingen ausgebrochen waren, und auch die starke Fährte des Keilers fand sich bald verschwommen und fast aufgelöst am angrenzenden Bestandesrand. Offenbar hatte er sich noch in der Nacht auf den Weg zurück gemacht in seine angestammten Einstände, und wir kamen schließlich zu dem Schluss, dass er nicht lebens-bedrohlich krank war, sonst hätte er diese wahrhaft sagenhafte Nachsuche nicht überstanden.
Und so zogen wir den Flut vor diesem Keiler, der über 23 Kilometer Nachsuche durchhielt, 13 Schüssen auswich, wie durch ein Wunder mehreren Dutzend Jägern ein Schnippchen schlug und nun, verfolgt durch drei Landkreise, hoffentlich noch lange seine starke Fährte zieht. Und wir zogen dankbar und anerkennend den Flut vor diesem hervorragenden Hannoverschen Schweißhund und seinem unermüdlichen Führer Günter Ludwigs.